1.6.1 Verkehrliche Anforderungen an Ridepooling-Systeme

Datum der Konstituierung: 8.6.2018
Leiter: Prof. Dr. rer. nat. Christian Liebchen

Problem / Ziel

Technischer Fortschritt in verschiedensten Disziplinen eröffnet im Personennahverkehr Chancen für neue Mobilitätsformen:

  1. Nutzer können ihre Fahrtwünsche individuell per App komfortabel adressieren.
  2. Durch elektrische Antriebe in Kombination mit der Nutzung erneuerbarer Energien kann Straßenverkehr wesentlich umweltverträglicher werden.
  3. Mit Erreichen der Stufe des fahrerlosen Fahrens wird öffentlicher Verkehr ungleich günstiger als bisher angeboten werden können.

Dabei wird greifbar, dass "Ride Sharing" (auch "Ride Pooling") als neue Form öffentlichen Verkehrs sogar zum ÖV-Fahrpreis eigenwirtschaftlich angeboten werden kann. Erste Studien lassen für bestimmte Einsatzszenarien ausgesprochen positive Potenziale erahnen (z. B. MEGAFON-Studie der Universität Stuttgart im Auftrag von VDV, SSB und VVS).

Aber in welchem Maße werden solche perspektivisch eigenwirtschaftlichen Verkehrsleistungen auch tatsächlich dort angeboten werden, wo sie durch ihren "on demand"-Charakter für die Allgemeinheit einen besonders großen volkswirtschaftlichen Vorteil ggü. herkömmlichen Linienverkehren ausspielen können (dünn besiedelte Quartiere)? Oder werden die Anbieter eher auf zentrale Stadtbereiche mit einer hohen Fahrtendichte zielen, sodass sich ggf. sogar die Frage des "Rosinenpickens" zum Nachteil der Auslastung von bestehenden linienbezogenen ÖPNV-Angeboten stellen könnte? Zumindest das heute zur Sicherstellung eines flächendeckenden und qualitätsgerechten Verkehrsangebots verbreitet bestehende Instrument "Verkehrsvertrag" würde im Falle eigenwirtschaftlicher Verkehre dann nicht mehr unmittelbar zur (monetären) Steuerung zur Verfügung stehen.

Jedoch besteht in Deutschland gemäß § 1 und § 2 Personenbeförderungsgesetz (PBefG) für die geschäftsmäßige Beförderung von Personen generell eine Genehmigungspflicht. Ein genehmigungsfähiges Verkehrsangebot hat gem. § 13 Abs. (2a) PBefG insbesondere auch verkehrliche Hürden zu nehmen. Dabei bildet der Nahverkehrsplan (§ 8 Abs. (3)) ein entscheidendes Instrument.

Zwar passen neue Mobilitätsformen des "Ride Sharing" bzw. der "Mobility as a Service" im Status Quo zunächst nicht unmittelbar in die im PBefG (§ 2 und §4 2ff) definierten Formen von Personenbeförderung. Der am 07.02.2018 zwischen CDU, CSU und SPD vereinbarte Koalitionsvertrag lässt jedoch diesbezügliche Änderungen erwarten:

"Wir werden das Personenbeförderungsrecht modernisieren und die Rahmenbedingungen für den öffentlichen Verkehr und neue Bedienformen im Bereich geteilter Nutzungen (Ride Pooling) an die sich ändernden Mobilitätsbedürfnisse der Menschen und neue technischen Entwicklungen anpassen. Neue plattformbasierte digitale Mobilitätsangebote brauchen eine rechtssichere Grundlage für ihre Zulassung. Dabei achten wir darauf, dass ein fairer Ausgleich (level playing field) zwischen den unterschiedlichen Beförderungsformen gewahrt bleibt. Kommunen müssen entsprechende Steuerungsmöglichkeiten erhalten."

Unmittelbar nachdem diese primär juristischen Hürden für Ride-Sharing-Angebote genommen sind, werden verkehrswissenschaftliche Fragen virulent:

  1. Wie kann bemessen werden, ob ein Ride-Sharing-Angebot "mit einem Nahverkehrsplan in Einklang steht" (§ 13 Abs. (2a) PBefG)?
  2. Wie muss ein Nahverkehrsplan in Bezug auf Ride-Sharing-Angebote überhaupt beschaffen sein, um eine "ausreichende Bedienung der Bevölkerung sicherzustellen" (§ 8 Abs. (3) PBefG)?

Denn viele der in Nahverkehrsplänen definierten Qualitätsstandards (z. B. Erschließungsstandards, Mindesttakt, Anschlussqualität, Pünktlichkeit) passen zumindest nicht unmittelbar auf neue Mobilitätsformen des Ride Sharing bzw. anderer Formen der "Mobility as a Service".

Das Ergebnis der Arbeit des Arbeitskreises sollen in einem Wissensdokument Empfehlungen sein, welche Aufgabenträger bzw. Genehmigungsbehörden im Sinne der im Koalitionsvertrag vereinbarten "Steuerungsmöglichkeiten" in puncto verkehrlicher Anforderungen an Ride-Sharing-Systeme unterstützen. Ausgangspunkt für eine Kommune sind dabei die heute formulierten verkehrlichen Anforderungen an Linienverkehre, wie sie in der Regel Gegenstand von Nahverkehrsplänen sind.

Im Idealfall werden die zu erarbeitenden Empfehlungen eine "Übersetzungsmatrix" dieser Anforderungen in solche Kriterien umfassen, welche zunächst für Ride-Sharing-Systeme überhaupt wohldefiniert sind und mit denen sich die verkehrliche Qualität eines Ride-Sharing-Systems adäquat beschreiben lässt. Zudem müssen diese abgeleiteten Anforderungen mindestens in dem Umfang "eine ausreichende Bedienung der Bevölkerung" i. S. d. § 8 (3) PBefG sicherstellen, wie es durch einen im Status Quo auf Linienverkehr ausgerichteten Nahverkehrsplan der Fall ist.

Die Herstellung des eigentlichen Rechtsrahmens wird in diesem verkehrsplanerischen Arbeitskreis hingegen nicht vertiefend bearbeitet. Ebenso wenig stellen Fragen der praktischen Etablierung von Ride-Sharing-Systemen einen Schwerpunkt der Tätigkeit des Arbeitskreises dar.

Potenzielle Nutzende des Arbeitspapiers sollen primär Aufgabenträger und Genehmigungsbehörden, aber auch Ride-Sharing-Anbieter insbesondere in Vorbereitung eines Genehmigungsantrags sein.

Grobe Gliederung des Regelwerks

Eine wesentliche Aufgabe des Arbeitskreises wird darin bestehen, allgemeine verkehrliche Qualitätskriterien ("Quality of Service", QoS) zu identifizieren, die – bspw. in Anlehnung an DIN EN 13816 – insbesondere für Ride-Sharing-Angebote sinnvoll definiert sind ("QoS-Zielkriterien"). Der analytische Hauptteil der Arbeit des Arbeitskreises hat darauf aufbauend die Quantifizierung der Qualität mehrerer heute bestehender Linienverkehrsnetze bzgl. der zuvor identifizierten QoS-Zielkriterien zum Gegenstand. Im Abgleich der dabei ermittelten Werte mit den Vorgaben der jeweiligen Nahverkehrspläne soll dann die eigentliche "Übersetzungsmatrix" formuliert werden.

Um diese Hauptphase der Tätigkeit des Arbeitskreises möglichst zielgerichtet bearbeiten zu können, wird dieser zuvor eine Phase zur Strukturierung des Themenfeldes vorangestellt. In dieser soll zum einen der Bearbeitungsumfang näher spezifiziert werden (z. B. Betrachtung von Betriebskosten, Fahrgastrechte, Gestaltung Zugangspunkte, Hybridzustände, Modal-Split-Prognosen). Zum anderen ist beispielsweise zu erwarten, dass die sinnvoll an Ride-Sharing-Systeme zu richtenden verkehrlichen Anforderungen signifikant vom Fahrtenaufkommen, von der Bevölkerungsanzahl und v. a. -dichte abhängen werden. Insofern kann eine Untergliederung der Bearbeitung anhand von Siedlungsstrukturdaten geboten sein.

Angestrebtes Ergebnis

Zunächst soll ein Arbeitspapier (W 2) erstellt werden. Je nach Ergebnis sind in einer zweiten Bearbeitungsphase Hinweise oder Empfehlungen denkbar.

Arbeitspapier (W 2) – 2020

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